Können Ärzte bei knappen intensivmedizinischen Ressourcen in Bezug auf eine vorzunehmende Patiententriagierung rechtssicher handeln? Welche Auswahlkriterien dürfen auf Behandlerseite angelegt werden und welche eben nicht?

Während in einigen Regionen der Republik die intensivmedizinische Versorgung bereits an ihre Grenzen kommt, ist die Lage in anderen Regionen noch vergleichsweise entspannt. Alle Krankenhäuser versuchen sich derzeit bestmöglich auf eine hohe Anzahl intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Patienten vorzubereiten. Es werden die Intensivkapazitäten hochgefahren, um Situationen zu vermeiden, die in anderen europäischen Ländern zu einem Kollaps des Gesundheitssystems geführt haben.
Daher ist es wichtig, unsere Ärzte und Pflegenden vor einem moralischen Dilemma zu bewahren: Die Entscheidung, welchem Patienten eine Behandlung auf der Intensivstation gewährt wird und welchem nicht, wenn nicht genügend Betten zur Verfügung stehen.
Beleuchten wir folgendes fiktives Szenario:
Krankenhaus A verfügt über 25 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit. 24 dieser Betten sind belegt. Aufgrund eines Corona-Ausbruchs in einem benachbarten Seniorenzentrum, wird die zentrale Notaufnahme (ZNA) des Krankenhauses mit zwei atemnötigen Bewohnern des Seniorenzentrums angefahren.
Patient B ist 72 Jahre alt, hat eine beginnende Demenz, ansonsten keinerlei Vorerkrankungen und ist nicht gebrechlich. Bei Aufnahme stellt sich der Patient extrem luftnötig dar, seine Sauerstoffsättigung verschlechtert sich minütlich. Er ist ansprechbar.
Patientin C ist 67 Jahre alt, als Vorerkrankungen sind eine schwere COPD sowie Diabetes mellitus bekannt. Frau C ist in einem guten Allgemeinzustand. Ihr Kreislauf ist bei Aufnahme instabil. Sie ist nicht ansprechbar.
Es liegen keine Patientenverfügungen vor.
Wie kann nun der Entscheidungsprozess, welcher der beiden beatmungspflichtigen Patienten das freie Intensivbett bekommt, aussehen?
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) normiert in Artikel 2 Abs. 2 und in Artikel 3 Abs. 3 das Folgende:
Artikel 2 Abs. 2 GG Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Artikel 3 Abs. 3 GG Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Diese verfassungsrechtlich verankerten Rechte helfen insgesamt im Auswahlverfahren nicht weiter. Im Gegenteil: Kriterien wie Alter, Geschlecht, Abstammung, Behinderung usw. dürfen keine Auswahlkriterien sein. Man wird also nicht sagen können, dass Patient C etwa aufgrund ihres geringeren Alters der Vorrang vor Patient B einzuräumen ist.
Auch andere Gesetze bieten keinen klaren juristischen Ausweg aus diesem Dilemma.
Dies erkennend hat die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) unter Beteiligung sieben weiterer Fachgesellschaften am 25. März 2020 „Klinisch ethische Empfehlungen für Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ herausgegeben (https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19/1540-covid-19-ethik-empfehlung-v2/file).
Diese Empfehlungen geben den Akteuren in den Kliniken ein Entscheidungsgerüst an die Hand, welches als Leitfaden dienlich ist. Dabei werden Entscheidungen über die medizinische Versorgung grundsätzlich vor dem Hintergrund des Bedarfs des einzelnen Patienten (patientenzentriert) getroffen. Die Indikation und der Patientenwille bilden die Grundlage für die patientenzentrierte Entscheidung. Eine Intensivtherapie ist nicht indiziert, wenn der Strebeprozess unaufhaltsam begonnen hat, die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre. Patienten, die eine Intensivtherapie ablehnen, werden nicht intensivmedizinisch behandelt. Dies kann auf der Grundlage des aktuell geäußerten, erklärten (z.B. in einer Patientenverfügung), früher mündlich geäußerten oder mutmaßlichen Willens erfolgen.
Keine der zuvor genannten Kriterien treffen nach erster ärztlicher Einschätzung in der ZNA auf die Patienten aus dem Seniorenzentrum zu.
Die Empfehlungen der DIVI bieten neben den bereits Genannten aber weitere Entscheidungsgrundlagen. Danach sollte sich die Priorisierung von Patienten am „Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht“ orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“ bedeute, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht bestehe. Vorrangig würden dann diejenigen Patienten klinisch notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose auch im weiteren Verlauf haben.
Die Empfehlungen der DIVI benennen im Weiteren Kriterien, die in der Regel mit einer schlechten Erfolgsaussicht intensivmedizinischer Maßnahmen verbunden sind. Dazu gehören unter anderem beispielhaft der Schweregrad der führenden Erkrankung bei Aufnahme, schwere Komorbiditäten mit deutlicher Einschränkung der Prognose wie etwa chronische Organversagen, schwere Organdysfunktion oder fortgeschrittenes Leberversagen, weit fortgeschrittene Krebserkrankung, Multimorbidität, aber auch der allgemeine Gesundheitsstatus wie etwa Gebrechlichkeit.
Diese Kriterien zugrunde legend ergibt sich für die Patienten C und B aus dem eingangs gewählten Szenario mutmaßlich eine Abwägung dahingehend, dass Patientin C trotz ihres jüngeren Lebensalters aufgrund ihrer Vorerkrankungen, insbesondere der schweren COPD, und dem aktuellen kritischen Zustand eine schlechtere Prognose in Bezug auf die Überlebenswahrscheinlichkeit bei intensivmedizinischer Behandlung auszustellen ist als Patient B, für den wohl insgesamt eine bessere Gesamtprognose besteht. Neben dieser Abwägung bei diesen beiden Patienten in der ZNA in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Überlebenschancen und der Erfolgsaussichten der Intensivtherapie, müssen daneben ebenfalls die sich bereits auf der Intensivstation befindlichen Patienten unter genau den gleichen Gesichtspunkten überprüft werden, und es hat eine entsprechende Abwägung anhand des ganz aktuellen Zustandes zu erfolgen.
Niemandem sollte aufgebürdet werden, diese moralisch-ethische belastende Entscheidung allein zu treffen. Empfohlen wird insofern ein Sechs-Augenprinzip in der Gruppe der Behandler, die Hinzuziehung des Ethikkomitees, welches im Idealfall derzeit 24/7 zur Verfügung steht, sofern möglich die Einbindung von Angehörigen – auch zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten – und nicht zuletzt die obligate Prüfung vorhandener Kapazitäten in anderen Häusern anhand des DIVI-Registers für verlegungsfähige Patienten.
Um im Falle einer nachgelagerten juristischen Überprüfung des Behandlungssettings nicht auch noch in Beweisschwierigkeiten in Bezug auf einen medizinisch nachvollziehbar begründeten Abwägungsprozess zu kommen, ist die Dokumentation eben dieses Abwägungs- und Entscheidungsprozesses elementar wichtig.
Sähe sich die Ärzteschaft etwa mit dem Vorwurf der Tötung durch Unterlassen konfrontiert, welcher hier tatbestandlich ohne Zweifel in Betracht käme, so müssen entlastende Argumente vorgetragen werden, die auch zu beweisen wären. Ohne entsprechende Dokumentation erscheint dies geradezu unmöglich. Insofern ist es ratsam, in dieser für die Leistungserbringer sowohl medizinisch wie ethisch bestehenden Ausnahmesituation eine Entlastung jedenfalls insofern zu schaffen, als eine Person für die Dokumentation abgestellt wird.
Es bleibt also festzuhalten:
Bei knappen intensivmedizinischen Ressourcen sind die Abwägungs- und Entscheidungsprozesse nach medizinischen Kriterien zu treffen. Erwägungen in Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale Stellung oder ähnliches sind nicht relevant und bereits verfassungsrechtlich unzulässig. Das deutsche Krankenhauswesen ist – Stand heute – auch auf eine hohe Anzahl intensivpflichtiger Patienten gut vorbereitet. Damit ist die Ausgangssituation augenscheinlich eine bessere als sie beispielsweise in Norditalien gewesen ist.
Lassen wir die Personen, die im schlimmsten Fall die zuvor skizzierten Entscheidungen zu treffen haben, nicht allein.
Bereiten sie jetzt eine zu den Prozessen ihrer Klinik passende Ablauforganisation vor, klären sie die Zuständigkeiten, die notwendigen Kommunikationswege und stellen sie eine Dokumentationshilfe zur Verfügung, die sicherstellt, dass die entscheidungsrelevanten Kriterien einbezogen wurden und entsprechend dokumentiert werden. Hierzu finden sie eine Vorlage der DIVI auf deren Homepage (https://www.divi.de).
Kommt das System an seine Grenzen, ist es für diese vorbereitenden Maßnahmen zu spät und es wäre intolerabel deswegen Menschenleben zu riskieren.
Autor: Bianca Meier, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht, Leitung Recht & Compliance bei consus clinicmanagement