Die Königsdisziplin des Datenmanagements

Wechselt ein Patient seinen Arzt, wandern die mitunter über Jahrzehnte angefallenen Informationen nicht unbedingt mit. Die Konsequenz besteht nicht selten darin, dass wiederholte Anamnesegespräche und kostspielige Doppeluntersuchungen durchgeführt werden, die sowohl für den Patienten selbst, als auch für die Gesundheitswirtschaft lästig sind. Die elektronische Patientenakte – kurz ePA – soll an dieser Stelle Abhilfe verschaffen, da sie das Potenzial besitzt, sämtliche Patientendaten zu halten, zu verwalten und bereitzustellen.
Rahmenbedingungen zur Einführung der elektronischen Patientenakte
Der Deutsche Bundesrat hat am 18.09.2020 das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) bewilligt, welches am Folgetag in Kraft getreten ist. Somit steht fest: Die ePA kommt!
Sie wird zukünftig Patienteninformationen in einer App visualisieren, von der aus zu jeder Zeit und von jedem Ort aus zugegriffen werden kann. Die ePA soll ab dem 01.01.2021 stufenweise eingeführt werden. In der ersten Phase soll es den Akteninhabern laut PDSG möglich sein, die ePA mit Befunden, Arztberichten, Röntgenbildern, Impf- und Mutterpass sowie Zahnbonusheften zu füllen. Darüber hinaus ist es in dieser Stufe lediglich möglich, die Akte vollständig oder gar nicht für einzelne Leistungserbringer zu öffnen. Erst ab der zweiten Stufe, welche zum 01.01.2022 geplant ist, haben Patienten einen Anspruch darauf, dass Ärzte dort die Patientendaten eintragen. Eine selektive Freigabe der Dokumente erfolgt ebenfalls erst im selbigen Jahr. Ein weiteres Anwendungsfeld stellt die freiwillige Datenspende dar, welche ab dem Jahr 2023 geplant ist. Hierbei können Patienten entscheiden, ob ihre ePA-Daten für Forschungszwecke genutzt werden. Die Nutzung der ePA ist freiwillig und für die Versicherten kostenfrei.
Das PDSG steht derzeit in der Kritik, die geforderte Datenhoheit und Patientenzentrierung nicht mit dem Start der ePA in den Fokus zu rücken. Vielmehr sieht der Bundesdatenschutzbeauftragte Professor Ulrich Kelber durch die erste Phase die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verletzt und warnt die Krankenkassen davor, die ePA im neuen Jahr nach den Vorgaben des PDSG einzuführen. Andere Parteien wie zum Beispiel das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sehen dagegen keine Probleme. Das BMG betont, dass durch die freiwillige Nutzung dem Patienten die Wahlfreiheit über die Teilnahme gewährt wird und somit die Kundenzentrierung in den Mittelpunkt rückt. Auch könne der Patient frei entscheiden, zu welcher Phase er mit der Nutzung der ePA beginnt. Darüber hinaus bestehe aus BMG-Sicht kein Alles-oder-Nichts-Prinzip, da der Patient selbst bestimmt, welchem Arzt der Zugriff gewährt wird und ob dieser beispielsweise die selbst eingestellten Informationen einsehen darf. Die Datensicherheit sei durch die Telematikinfrastruktur (TI) jederzeit gewährleistet.
Auch die Einschränkung, dass die ePA zunächst im Wesentlichen nur durch die Krankenkassen angeboten werden dürfen, wird kontrovers diskutiert und kritisiert, denn die Einschränkung eines innovationstreibenden Wettbewerbs ist häufig auch mit geringerer Kundenorientierung und mangelnder Akzeptanz durch die Nutzer verbunden.
Chancen der elektronischen Patientenakte
Auch wenn heutzutage die Gesundheitskompetenz vieler Patienten merklich gestiegen ist, scheitern mitunter noch immer Behandlungsansätze aufgrund fehlender Compliance und Adhärenz. Durch die tiefere Einbindung, hat die ePA das Potenzial, Patienten verstärkt zu Co-Produzenten ihrer Gesundheit zu machen, da sie durch ihre Informationen einen ganzheitlichen Überblick über den eigenen Gesundheitsstatus erhalten. Ob, wann und vor allem in welcher Tiefe dieses Potenzial vollständig gehoben wird, ist aufgrund der oben genannten Gegebenheiten noch nicht klar zu benennen und hängt stark vom letztendlichen Nutzungsgrad ab.
Für einen Großteil der Beteiligten steht fest, dass die digitale Transformation insgesamt eine Menge Chancen in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens bietet, welche beispielsweise jüngst in Diskussionen rund um die TI und dessen Mehrwertdienste beleuchtet wurden. Die ePA im Speziellen kann als Teil der digitalen Bewegung insbesondere Potenziale in den Bereichen Kommunikation, Patientensicherheit und der Kostenersparnis für das Gesundheitssystem heben, auf welche im nachfolgenden Teil eingegangen wird:
1) Kommunikation
Gerade bei Arztbesuchen, die von langen Wartezeiten geprägt sind, wünschen sich Patienten oft mehr Kontakt zu den Behandlern. Grund dieser Wartezeiten sind oftmals die nicht-medizinischen Pflichten, denen ein Arzt nachkommen muss. Dazu gehört es zum Beispiel, alle relevanten Informationen abzugleichen und gegebenenfalls Rücksprache mit anderen Akteuren zu halten – das kostet Zeit. Die ePA kann die Kommunikation dahingehend verbessern, dass Rückfragen aufgrund von Informationsvollständigkeit auf ein Minimum reduziert werden und bei Bedarf zielgerichteter formuliert werden können. Hierdurch kann Zeitersparnis erzielt werden, die der Patientenversorgung zugutekommt. Die digitalen Informationen der ePA und die Nutzung sogenannter Clinical Decision Support Systeme (CDS-Systeme) können darüber hinaus helfen, die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnosesicherung zu verkürzen – hierdurch lässt sich weitere Effizienz im Behandlungsverlauf erzielen.
2) Patientensicherheit
Auch für die Patientensicherheit bietet die ePA eine echte Chance, denn eine zeitnahe und vollständige Datenverfügbarkeit kann im Zweifel Leben retten. Wie die Realität zeigt, kommen heute noch vermehrt analoge Patientenakten zum Tragen, welche durch unleserliche Schrift und durchgestrichene Zeilen den Alltag erschweren. Die hierdurch entstehenden Fehler sind jedoch nicht nur auf den Faktor Mensch zurückzuführen, sondern vielmehr auf die bislang fehlende Unterstützung von entsprechender Infrastruktur. Die in diesem Zuge entstehenden unstrukturierten Daten führen dazu, dass Informationen verlorengehen oder nicht rechtzeitig am richtigen Ort zur Verfügung stehen. Auch besteht die Gefahr, dass wichtige Hinweise nicht korrekt dokumentiert werden können und somit dem Patienten ein Nachteil in der Genesung entsteht.
3) Kostenersparnisse
Im Gesundheitswesen werden vor allem die ansteigenden Kosten, beispielsweise durch die Zunahme an chronisch kranken und multimorbiden Patienten, diskutiert. Diese Patienten gelten als besondere Herausforderung für das Gesundheitssystem, weil sie komplexe Versorgungsketten bedingen und auch gesundheitsökonomische Problemstellungen mit sich bringen. Die Kosten entstehen meistens nicht nur durch die zahlreichen Medikamentengaben, sondern vor allem durch den Faktor Informationsmangel. Dieser Umstand führte bereits in der Vergangenheit zu Überbehandlungen, Fehlbehandlungen und anderen ungerechtfertigten Versorgungsansätzen.
Laut einer Studie von pwc/strategy& aus dem Jahre 2017, beläuft sich das Einsparvolumen durch eHealth-Anwendungen alleine bei der Indikation Diabetes mellitus geschätzt auf ca. 19 Millionen Euro jährlich und indikationsübergreifend auf ca. 1,2 Milliarden Euro. Die jährlichen Effizienzpotenziale alleine in Deutschland durch Digitalisierung im Allgemeinen werden mit bis zu 39 Milliarden Euro bewertet. Der Einsatz digitaler Technologien senkt Gesundheits- und Versorgungskosten demnach um etwa 12 Prozent, wobei der größte Nutzen durch digitale Patientenakten und Onlineberatung gesehen wird.
Fazit
Die ePA wird ab dem kommenden Jahr in der ersten Phase nutzbar sein – das besagt das bewilligte PDSG. Wie hoch der Nutzungsgrad über die einzelnen Phasen hinweg sein wird, ist aktuell noch unklar. Aktuell wird heftig diskutiert, da Zweifel daran bestehen, ob eine Lösung die für einige Player nicht den Regeln der DSGVO folgt und in der ersten Phase eine „Ganz oder gar nicht”-Mentalität bei der Datenfreigabe an den Tag legt, am Markt überhaupt an Akzeptanz gewinnen kann.
Insgesamt bietet die ePA in ihrer Grundidee Chancen auf Positives, sodass alte und vor allem lästige Zöpfe endgültig abgeschnitten werden könnten. Durch die Verdichtung der Informationen könnten die Sektoren künftig näher zusammenrücken und so auch die Potenziale der Digitalisierung heben.
Christian Pittelkau
Strategic Key Account Manager
CGM Clinical Deutschland GmbH
Schlaraffiastr. 1
44867 Bochum
christian.pittelkau@cgm.com
Christian Pittelkau ist Medizinischer Informatiker sowie Gesundheitswissenschaftler. Aktuell beschäftigt er sich als Key Account Manager und Projektleiter bei der CompuGroup Medical (CGM) mit dem Themenkomplex der intersektoralen Vernetzung. Davor verantwortete er das Zuweisermanagement eines Essener Krankenhausverbundes.