Berufliche Pflege muss gestärkt werden!
Düsseldorf. Der Vorstand des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW hat Bundeskanzlerin Merkel einen offenen Brief geschrieben. Die endende Amtszeit der Kanzlerin nimmt sich der Errichtungsausschuss der Pflegekammer NRW zum Anlass, um an oberster Stelle erneut auf die eklatante Situation in der Pflege aufmerksam zu machen. Obwohl die Problematiken hinreichend bekannt sind, hat die erfolgreiche „Kanzlerin der Wirtschaft“ sehr wenig für Pflegende und Pflegeempfänger bewirkt. Der offene Brief appelliert an Angela Merkel, eine Weichenstellung für einen dauerhaften Dialog zwischen Pflegenden und dem Bundeskanzleramt vorzunehmen.
„Die Entscheidungen auf Bundesebene zeigen ihre Auswirkungen auf der Landesebene und vor allem bei den beruflich Pflegenden und den Pflegeempfängern. Wir wenden uns deshalb sehr gezielt an die Kanzlerin, gerade in diesem Aufbauschritt, in dem wir uns befinden“, so Sandra Postel, Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Pflegekammer NRW. „Volle Argumentationsstärke werden wir erreichen, wenn wir mit validen Daten die Situation der Pflegenden untermauern können. Dafür wird jetzt auch in Nordrhein‐Westfalen die Pflegekammer aufgebaut. Das System Pflege ist in den letzten Jahren herabgewirtschaftet worden und es ist ausschließlich dem hohen Engagement der Pflegenden zu verdanken, dass trotz Pandemie und Flutkatastrophe nicht mehr zu Pflegende in Not geraten sind. Das Einzige was noch hilft, ist es die Pflegenden mit an den politischen Entscheidungstisch zu holen“, führt Sandra Postel aus.
Nachfolgend finden Sie den offenen Brief an die Kanzlerin im Volltext:
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
vorneweg: Ich habe großen Respekt vor Ihrer Lebensleistung! Ein Blick auf die Statistiken zu „15 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel“ hinterlässt einen positiven Eindruck: Es kam zu einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes um 53 Prozent, die Arbeitslosenzahlen gingen um 55 Prozent zurück.
Ich schreibe Ihnen heute im Namen des Errichtungsausschusses der Pflegekammer Nordrhein‐Westfalen, um am Ende Ihrer Amtszeit noch einmal auf die eklatante Situation in der Pflege aufmerksam zu machen. Wir erinnern uns alle noch sehr gut daran, wie Alexander Jorde Sie in der Wahlarena 2017 auf die Versäumnisse der Politik und die menschenunwürdigen Rahmenbedingungen für Pflegende und Pflegeempfänger angesprochen hat. Ein Blick auf weitere Zahlen gibt Alexander Jorde auch vier Jahre später Recht: In der Zeit Ihrer Kanzlerschaft verdoppelte sich die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,128 Millionen im Jahr 2005 auf 4,128 Millionen im Jahr 2019. Man sollte nun annehmen, dass sich also zumindest die Zahl der Pflegefachpersonen in dieser Periode unter den hervorragenden wirtschaftlichen Bedingungen der Kanzlerschaft Merkel mindestens verdoppelt hat! Zunächst muss man ehrlich aussprechen: Die exakten Daten werden für unsere Berufsgruppe – anders als in anderen Heilberufen – nicht erfasst. Grob geschätzt steigt die Zahl der in der Altenpflege beschäftigten Fachkräfte nur etwa halb so schnell wie die Zahl der Pflegebedürftigen.
2017 wäre ein guter Zeitpunkt für eine grundsätzliche Neuausrichtung gewesen. Dazu bewegten Sie sich allerdings nicht. Es blieb bei einer „Weiterso“‐Politik der Reförmchen und der Stabilisierung bestehender Strukturen im Dschungel der Selbstverwaltung. Es blieb bei kosmetischen Boni und unter dem Strich einer fortschreitenden Verschlimmerung der Situation. Sie als erfolgreiche Kanzlerin der Wirtschaft haben zugelassen, dass das System Pflege herabgewirtschaftet wurde. Es ist nur den verbliebenen, hochengagierten und ‐kompetenten Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, dass das System noch nicht zusammengebrochen ist. Gerade in der Pandemie, aber auch während und nach der Naturkatastrophe Mitte Juli 2021 in Teilen von Rheinland‐Pfalz und Nordrhein‐Westfalen leistete und leistet die Pflege über jedes Maß hinaus ihre gute Arbeit.
Aber viele Pflegende wollen unter diesen Umständen nicht mehr im Beruf verbleiben, der im Gesamtgefüge von vielen Interessenvertretern weiter als Verhandlungsmasse hin und her geschoben wird. Sie glauben in Teilen auch nicht mehr daran, dass sie wirksam im System etwas verändern können.
Mutige Entscheidungen, vergleichbar mit dem Ausstieg aus der Atomenergie, wären die systematische und konsequente Einbindung der Pflege in die politischen Entscheidungen auf Bundes‐ und Landesebene sowie in der Gemeinsamen Selbstverwaltung. Weitere wichtige Punkte sind ein ständiger Dialog mit dem Kanzleramt und die Ausgestaltung vorbehaltener Aufgaben durch die pflegerische Selbstverwaltung. Das aktuelle Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz ist das nächste Beispiel dafür, wie es nicht geht: Wir wurden wieder einmal nicht eingebunden!
Soll es das gewesen sein, oder ist gerade zum Ende Ihrer Amtszeit eine neue Weichenstellung möglich? Anders als 2017 bräuchten wir einen ernst gemeinten Dialog mit der Pflege. Ein solcher auf Dauer angelegter Dialog mit dem Bundeskanzleramt bietet Ihnen einen der Bedeutung der Pflege angemessenen Schlusspunkt und den Pflegenden eine Perspektive, um selbstbestimmt auch „ganz oben“ Gehör zu finden.
Sicher werden Sie im hohen Alter auf die beste Pflege Zugriff haben. Wenn das in Zukunft für jeden Pflegeempfänger in Deutschland gelten soll, werden wir die Unterstützung des nächsten Bundeskanzlers oder der nächsten Bundeskanzlerin brauchen. Sie können Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger die Notwendigkeit dieses ungefilterten Zugangs mit auf den Weg geben und ein passendes Format dazu, damit die Pflege besser gehört werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Sandra Postel
und der gesamte Vorstand des Errichtungsausschusses der Pflegekammer Nordrhein‐Westfalen
Quelle:www.pflegekammer-nrw.de