Der Experten-Standpunkt in der KU Gesundheitsmanagement
Ende 2019 erklärte Weltärztebundpräsident Professor Frank Ulrich Montgomery: „Deutschland hat das beste Gesundheitssystem der Welt“. Das war kurz vor Ausbruch der Coronapandemie. Als in Deutschland Anfang 2020 die ersten Verdachtsfälle auftraten, zeigte sich der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn entspannt und wies daraufhin, dass der Krankheitsverlauf beim Coronavirus milder sei als bei einer Grippe. Deutschland sei absolut gut vorbereitet und auch RKI-Präsident Professor Lothar Wieler hielt die Gefahr für das neuartige Virus in Deutschland für „sehr gering“. Selbst als das Virus unser Land im März längst voll im Griff hatte, betonten beide ebenso wie Dr. Andreas Gassen, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dass Masken vollkommen unsinnig seien, um sich vor einer Ansteckung zu schützen, „weil der Virus gar nicht über den Atem übertragen wird.“ (O-Ton Jens Spahn). Eine Meinung, die damals auch der Apothekerbundesverband mit markigen Worten vertrat. In einer Pressemitteilung hieß es: „Viele Patienten lassen sich durch Berichte in den Medien oder dem Internet verunsichern – seriöse Informationen gibt es in der Apotheke vor Ort.“ Aha. Mittlerweile wissen es selbst die Apotheker besser. Und vor allem wissen wir alle, dass Deutschland eben alles andere als gut auf die Coronakrise vorbereitet war. Eine Krise, die so manches Defizit zu Tage förderte. Defizite, die auch vor Corona schon bestanden, die aber durch die Pandemie, so gut sie dank des engagierten Einsatzes der Mitarbeitenden in den Krankenhäusern auch bewältigt wurde, in den Fokus der Öffentlichkeit gerieten.
Als erstes ist die Dokumentationswut zu nennen. Jeder Impftermin zeigte in den ersten Monaten des vergangenen Jahres in beschämender Klarheit auf, woran unser Gesundheitswesen am meisten krankt: an der überbordenden Bürokratie. Komplizierte Anmeldeverfahren sowie ein absurder Papierkram rund um die Aufklärung und Dokumentation raubten vielen Impfwilligen die Nerven. Während in anderen Ländern wie den USA oder Israel längst Impfungen „to go“ am Strand oder in Bars angeboten wurden, wurde in deutschen Impfzentren streng Dienst nach aufwändiger Vorschrift geschoben. Eine Abkehr von der lästigen Zettelwirtschaft könnte die Digitalisierung ermöglichen. Aber das deutsche Gesundheitssystem hat hier längst den Anschluss verloren. Im Digital Health Index der Bertelsmann-Stiftung liegt die führende Industrienation abgeschlagen auf dem 16., dem vorletzten, Tabellenplatz. Nicht einmal die Implementierung der in vielen Ländern längst üblichen elektronischen Patientenakte haben wir geschafft. Sie scheiterte immer wieder auch an den Bedenkenträgern, die in übertriebener Weise die Datenschutzkeule schwingend der Patientendatensicherheit eine höhere Bedeutung beimessen als der Patientensicherheit. Ein Prinzip, dem auch bei der Coronawarnapp der Bundesregierung gefolgt wurde und diese „app“-solut nutzlos machte. Zumindest im Hinblick auf die effiziente Kontaktverfolgung zur Unterbrechung von Infektionsketten, für die die über 130 Mio. Euro teure App ursprünglich entwickelt worden war.
Eine gewaltige Herausforderung stellt auch der Fachkräftemangel dar. Obwohl Deutschland bezogen auf die Bevölkerung über etwa 50 Prozent mehr Ärzte und Pflegekräfte als der EU-Durchschnitt verfügt, ist die Arbeitsbelastung in deutschen Krankenhäusern die zweithöchste im internationalen Vergleich. Ein klarer Beleg für das hohe Maß an fehlender Systemeffizienz. Diese ist zum einen das Resultat der bereits erwähnten Bürokratie. Ärzte sowie Pflegekräfte müssen bis zu vier Arbeitsstunden am Tag für Papierkramaufbringen und können sich in dieser Zeit nicht den Patienten widmen. Zum anderen ist die Ineffizienz auch das Ergebnis von Fehlanreizen, die sowohl vom DRG-System als auch von den tiefen Gräben zwischen der ambulanten und stationären Versorgung ausgelöst werden. Eine Möglichkeit, die beiden letztgenannten Probleme zu lösen, stellen die Hybrid-DRG dar. Sie haben es sogar in den Koalitionsvertrag geschafft. Möge ihnen ein ähnliches Schicksal erspart bleiben wie der elektronischen Patientenakte: Ihre Einführung wurde bereits vom Bundestag beschlossen. Das war 2003, vor sage und schreibe 19 Jahren. Für Karl Lauterbach und die Regierungskommission gibt es viel zu tun im „besten Gesundheitssystem der Welt“.
Autor: Dr. Nicolas Krämer, Vorstandsvorsitzender der HC&S AG
Quelle: KU Gesundheitsmanagement 6/2022