Eine erste Einordnung von seltenen Krankheiten in sogenannte Orphan Diseases wurde 1983 von den USA vorgenommen – mit dem Gedanken, dass diese eine besondere Herangehensweise in Bezug auf die Versorgungssicherheit und Förderung benötigen. Heute unterscheiden sich die Einordnungskriterien regional gering: Das Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) der European Medicines Agency (EMA) definiert Orphan Diseases als Erkrankungen, an denen weniger als 0,05 Prozent der Menschen leiden. Außerdem werden sie dadurch charakterisiert, dass sie lebensbedrohlich sind oder eine chronische Invalidität nach sich ziehen und es für sie noch keine genügende oder zugelassene Methode für Verhütung, Diagnose oder Behandlung gibt. Hierunter fallen insgesamt etwa 8.000 Orphan Diseases, wovon rund 80 Prozent genetisch bedingt sind.
Diagnostik und Therapie
Aufgrund der Seltenheit dieser Erkrankungen sind sowohl die medizinische und wissenschaftliche Erforschung, die Diagnosestellung als auch die Entwicklung von Therapien schwierig. Die Versorgungssicherheit entsprechender Medikamente, sogenannter Orphan Drugs, ist nicht gewährleistet, da es nur geringe Anreize für die pharmazeutische Industrie gibt, ebendiese zu entwickeln. Defizitäre Anreize sind dem kleinen Markt, tendenziell geringen Umsätzen während des gesetzlichen Patentschutzes und hohen Entwicklungskosten geschuldet. Dementsprechend sind in der EU zum Stand Juni 2022 bislang 136 Medikamente mit aktivem Orphan Drug-Status zugelassen. Nichtsdestotrotz ist der Bedarf an Orphan Drugs hoch, da viele der Krankheiten einen hohen Schweregrad aufweisen und z.B. in der EU 30Mio.Menschen betreffen.
Lösungsansätze
Um diese Problematik anzugehen, beschäftigen sich europaweit das COMP und in Deutschland das Bundesministerium für Gesundheit sowie der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen mit regulatorischen, fördertechnischen, sowie Off-Label-Use-Lösungsansätzen.
Die EU setzte 2000 die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in Kraft, welche der Herstellung von Medikamenten mit Orphan-Drug-Status Vorteile und Anreize bietet. Allen voran werden ein automatischer Zugang zum zentralisierten Zulassungsverfahren ermöglicht, die EMA-Gebühren reduziert oder erlassen und für die Dauer von zehn Jahren eine Marktexklusivität gewährt. Die Verordnung verkürzt jedoch weder die Zulassungszeiten noch erleichtert sie den Marktzugang in Deutschland. Fördermaßnahmen für Forschungsprojekte setzen auf der europäischen Ebene auf eine Zusammenarbeit innerhalb des European Joint Programmes on Rare Diseases, welches mit etwa 55 Mio. Euro Projekte fördert. Innerhalb Deutschlands werden jährlich 10 Mio. Euro für die Forschung zu seltenen Erkrankungen bereitgestellt.
Ein weiterer Lösungsansatz stellt der Einsatz bereits zugelassener Arzneimittel auf einem Anwendungsgebiet oder einer Anwendungsart außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden genehmigten Gebrauchs, was als Off-Label-Use oder zulassungsüberschreitend bezeichnet wird, dar. Allerdings ist dieser für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte aufgrund von Haftung für eventuelle Nebenwirkungen riskant. Zudem ist der Erwerb für Patientinnen und Patienten aufgrund von teilweise fehlender Kostenübernahme durch die Krankenkassen nicht immer möglich. Um die Hindernisse des Off-Label-Use von Arzneimitteln zu minimieren und die Versorgungssituation zu optimieren, wäre eine vereinfachte Erweiterung der Zulassungsindikation von Nutzen. Da bisher noch keine vereinfachten Zulassungsregelungen oder wirtschaftlichen Anreize, wie etwa eine verlängerte urheberrechtliche Schutzfrist vorliegen, ist für pharmazeutische Unternehmen weiterhin die Beantragung auf Zulassungserweiterung aufgrund geforderter klinischer Studien, laufenden Risikominimierungsmaßnahmen sowie Kontrollen unwirtschaftlich und risikobelastet.
Autor: Julia Kaub, Partnerin Healthcare, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Erschienen in KU Gesundheitsmanagement 09/2022