Europäischer Gesundheitskongress 2022 am 6. und 7. Oktober in München
„Wenn die Piloten streiken, regen sich alle auf!“ Dabei kämen die Menschen dann nur nicht mehr von A nach B. „Wenn die Pfleger streiken, kommen die Menschen nicht mehr vom Bett auf die Toilette!“ Kaum ein Zitat wäre passender, um den Start des diesjährigen Europäischen Gesundheitskongresses zu beschreiben, als das des bekannten TV-Arztes Dr. Eckart von Hirschhausen. Denn ausgerechnet für den ersten Kongresstag hatte die Pilotenvereinigung Cockpit zum ganztägigen Streik bei Eurowings aufgerufen, so dass es bei einigen Kongressteilnehmern zu Verspätungen bei der Anreise kommen musste. So verpassten sie die Begrüßung von Kongressleiterin Claudia Küng und die Ansprache von Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek über „die unterschätzten Möglichkeiten unseres Gesundheitswesens“, zugleich Untertitel der unter dem Motto „Mehr wagen statt klagen“ stehenden Münchener Zusammenkunft. „Unser Gesundheitssystem ist auf vielerlei Weise herausgefordert: Fachkräftemangel, hoher Kostendruck in allen Bereichen und Schwierigkeiten bei Nachbesetzungen von Arztsitzen, insbesondere im ländlichen Raum, sind nur einige Beispiele“, so der Minister. Im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel forderte Holetschek gar Sanktionsmechanismen gegen in die Zeitarbeit abwandernde Pflegekräfte. Der Minister kritisierte auch die Bürokratie im Gesundheitswesen, deren Ursache die Bundespolitik sei, und forderte von den politischen Entscheidern, nun auch unangenehme Entscheidungen zu treffen. Für Holetschek stellt die Überwindung der starren Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung einen Weg aus der Krise dar. Mit intersektoralen Gesundheitszentren könnten etwaige Versorgungslücken vermieden werden. „Hierfür fehlen aber aktuell noch tragfähige rechtliche, strukturelle und insbesondere finanzielle Rahmenbedingungen. Diese muss der Bund rasch schaffen.“
Investitionsstau ja – aber nicht in Bayern
Holetschek weiter: „Das Versagen einiger Länder bei der Investitionskostenförderung darf nicht als Begründung für die Abschaffung oder grundlegende Umgestaltung eines bei richtiger Ausgestaltung erfolgreichen Systems herangezogen werden.“ Er betonte, dass der bedarfsgerechte Strukturwandel nicht durch planwirtschaftliche Strukturen und kleinteilige Vorgaben des Bundes gefährdet werden dürfe. Die bayerische Krankenhausplanung habe sich hier bewährt: Sie analysiere die Veränderungen und begleite den Strukturwandel erfolgreich. Auf dieser Grundlage finanziere Bayern die notwendigen Maßnahmen mit einem jährlichen Förderetat in Höhe von aktuell rund 643 Millionen Euro und sichert damit die Leistungsfähigkeit seiner Kliniken. Für Bayern sähe er – anders als in anderen Bundesländern – keinen Investitionsstau. Auch der bayerische Ministerpräsident Dr. Markus Söder gab sich in seinem Grußwort selbstbewusst und betonte den Vorbildcharakter der Kliniken an Inn und Isar, da sich unser Gesundheitswesen in der Coronapandemie als robust und belastbar erwiesen und die Digitalisierung einen kräftigen Schub erhalten habe. Widerspruch erhielt er dafür von Professor Günter Neubauer, dem wissenschaftlichen Leiter der Veranstaltung, und Claudia Küng zumindest in Teilen. Durch die Coronakrise sei nämlich allen sehr wohl bewusst geworden, dass unser Gesundheitssystem über strukturelle Defizite verfüge: „in der Infrastruktur, in der sektorübergreifenden Zusammenarbeit, in der „preparedness“ allgemein.“ Zu lange seien die Zustände lediglich beklagt worden. „Jammern ist des Kaufmanns Gruß“, lautete schon im Juli das Motto des Experten-Standpunkts in der KU. Jammern füllt aber keine Kammern. Was wir nun brauchen, so Neubauer und Küng, weiter, sei eine „eine nüchterne Anamnese, mutige und möglicherweise radikale Lösungsstrategien sowie engagierte Umsetzerinnen und Umsetzer.“
Engagierte Umsetzerinnen und Umsetzer
Bereits bei den anderen wichtigen Krankenhausmanagementkongressen des Jahres, dem DRG-Forum, dem Gesundheitskongress des Westens, dem Hauptstadtkongress, dem Gesundheitswirtschaftskongress und dem KU Managementkongress hatte sich in Bezug auf die engagierten „Umsetzerinnen und Umsetzer“ ein Trend abgezeichnet. Vor allem kommunale Träger setzen nämlich immer häufiger auf Sanierungsprofis, die von Managementgesellschaften eingesetzt werden, um ihre Kliniken wieder auf Vordermann zu bringen. Auch in München war davon die Rede, dass aktuell gleich mehrere Krankenhäuser der Schwerpunkt- und Maximalversorgung auf der Suche nach professionellen Managementpartnerschaften seien und sich mithin vom klassischen Modell des festangestellten Geschäftsführers auf dem Chefsessels verabschieden.
Führen KI, Digitalisierung & Co. zum Ende der Therapiefreiheit?
Einen inspirierenden Vortrag über die Medizin der Zukunft hielt Professor Felix Balzer, Chief Medical Information Officer der Charité. „Mit KI sind wir in der Lage, die Qualität der Behandlung zu verbessern.“ Einen Ersatz von Menschen durch KI werde es im Krankenhaus allerdings nicht geben, davon ist zumindest Dr. Anke Diehl, die oberste digitale Transformatorin der Universitätsmedizin Essen, überzeugt. Für die Heilung und Prävention vieler Krankheiten fehlten aber noch erforderliche Daten. Als Beispiel nannte sie die verschiedenen Krebsregister, die es im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland in jedem Bundesland gebe. Die fehlende Verfügbarkeit und die permanenten Brüche schadeten dem Patienten. Dringend appellierte sie daran, das zu ändern. Professor Herbert Rebscher, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, richtete den Blick nach Skandinavien, wo die Menschen ein tiefes Vertrauen in die staatlichen Strukturen hätten, was zu deutlich umfangreicheren Möglichkeiten der Datenauswertung führe als im von Misstrauen geprägtem Deutschland. Vor dem Hintergrund des gewählten Titels der Podiumsdiskussion wollte er auch nicht von einer Kontroverse sprechen. Es herrsche vielmehr Konsens und die entscheidende Frage laute: „Wie gewinnen wir gesellschaftliche Entscheidungsträger für eine Entwicklung, die wir alle wollen?“. Dass auch die Reha im Fokus der Digitalisierung steht, betonte Marcus Sommer, CEO der VAMED Gesundheit Deutschland GmbH.
Größte Umfrage aller Zeiten unter Pflegekräften
Nicht nur die Piloten pochen auf bessere Arbeitsbedingungen, auch die Pflegekräfte. Allerdings hätte ein ganz Deutschland lahmlegender Pflegestreik deutlich drastischere Konsequenzen als der der Pilotengewerkschaft. Professor Christian Karagiannidis von den Kliniken der Stadt Köln sprach in seinem Vortrag „Deutschland. Wo hat sich mutiges Krisenmanagement bewährt“ von einer dramatischen Situation in der Pflege. Der Fachkräftemangel sei nicht aufzuhalten und würde durch den „Demografietsunami“ sogar noch verstärkt. Es bedürfe jetzt mutiger Entscheidungen. Das Gesundheitssystem sei nicht zuletzt aufgrund ausufernder Bürokratie und Dokumentationsverpflichtungen ineffizient und müsse schnell sowie tiefgreifend verändert werden. Als systemverbessernde Maßnahmen schlug er eine Umnutzung kleiner und mittelgroßer ländlicher Krankenhäuser in ambulante Zentren, eine Einschränkung medizinischer Leistungen, weniger stationäre Leistungen sowie einen sofortigen Abbau von Übertherapien vor. Um die Pflege attraktiver zu gestalten, wird aktuell unter Pflegenden die größte Umfrage aller Zeiten durchgeführt. Dr. Alexander Schmid, Geschäftsführer der Münchener Unternehmensberatung 2perspectives, ist Studienleiter von #FutureofNursing: „Gemeinsam mit Pflegekräften aus verschiedensten Kliniken entwickeln wir mit unserer Pro-Bono-Initiative umsetzbare Maßnahmen für eine spürbare Veränderung in der Pflege. Hierfür brauchen wir ein möglichst breites Feedback der Pflege, das direkt in unseren Innovationsprozess einfließt – genauso wie eine Vielzahl vorhandener Ideen, die wir deutschland- und weltweit zusammengetragen haben.“
Vom Ausland lernen
In gleich mehreren Sessions kamen Vertreter ausländischer Gesundheitssysteme zu Wort. In der von Professor Konstantin Beck von der Universität Luzern moderierten Runde „Nach der Krise ist vor der Krise: Haben sich mutige Entscheidungen bewährt?“ talkten u.a. Dr. Florian Zerzer, Generaldirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebs, und Ole Thomsen aus Dänemark. Unser nördlichster Nachbarstaat gilt gemeinhin als nachahmenswertes Vorbild, wenn es um die Reorganisation des Krankenhauswesens geht. Dort ist es zwischen 1980 und 2020 gelungen, die Anzahl der Betten von 42.500 im Jahr 1980 auf 13.313 im Jahr 2020 zu reduzieren, die Anzahl der stationären Behandlungen pro Jahr von 916.000 auf 785.187 zu senken sowie die Anzahl der jährlichen ambulanten Behandlungen von 3.295.000 auf 11.482.310 zu steigern.
Fazit
Davon, dass auch Deutschland einen ähnlichen Weg beschreiten sollte, ist der renommierte Gesundheitsökonom Professor Andreas Beivers, der selbst die Session „Zukunftsfähige Krankenhausstrukturen: Wo stehen unsere europäischen Nachbarn?“ moderiert hatte, überzeugt. Er formulierte das Fazit des 21. EGK2022: „Gerade in puncto Vorhaltkostenfinanzierung, eine nachhaltige, adäquat finanzierte und hochqualitative Ambulantisierung ebenso wie effiziente Steuerung der Patienten können wir von unseren europäischen Nachbarn einiges lernen.“ In diesem Kontext verwies er auf ein Bonmot der Modeschöpferin Coco Chanel: „Kopie ist die ehrlichste Form des Kompliments.“
Kongressbericht von Dr. Nicolas Krämer, Fachbeirat der KU Gesundheitsmanagement