Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss der Verbesserung der Gesundheitsversorgung dienen

Berlin. Der Marburger Bund bedankt sich für die Gelegenheit, zu dem Gesetzentwurf Stellung nehmen zu können. Wir nehmen die angemessene Zeit zur Bewertung und Kommentierung des Entwurfs zur Kenntnis und danken auch dafür.
Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss der Verbesserung der Gesundheitsversorgung dienen. Das ist aus unserer Sicht dann der Fall, wenn sie zum Wohle der Patientinnen und Patienten und zum Wohle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sinne einer effektiveren und effizienteren Berufsausübung eingesetzt wird. Eine entsprechende Zielsetzung kommt bereits in der Problem- bzw. Zielbeschreibung des Digital-Gesetzes zum Ausdruck. Darin heißt es, dass „die digitale Transformation des Gesundheitswesens und der Pflege (…) ein herausragendes Potential für eine effizientere, qualitativ hochwertige und patientenzentrierte gesundheitliche und pflegerische Versorgung“ hat.
Insofern begrüßen wir ausdrücklich auch die mit dem Gesetz beabsichtigen Verbesserungsmaßnahmen bezüglich der elektronischen Patientenakte (ePA), des E-Rezepts, der Videosprechstunden und Telekonsilien, der Interoperabilität, der Cybersicherheit sowie der Verstetigung und Weiterentwicklung des Innovationsfonds.
Digitalisierung muss vom Anwender her gedacht werden. Nutzung (Verfügbarkeit und Nutzungsgrad), Nutzbarkeit (Usability) und Nutzen (Wirkung) von eHealth-Lösungen bezogen auf klinische wie sektorübergreifende Prozesse sind die relevanten Kriterien für die Digitalisierung. Gerade die Digitalisierung ist es, die im beruflichen Alltag der Leistungserbringer mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Patientinnen und Patienten schaffen kann.
Der in dem Gesetzentwurf vorangetriebenen Weiterentwicklung der ePA kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Sie ist Voraussetzung für eine optimale Versorgung der Patientinnen und Patienten und Plattform für einen zeitgemäßen Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern.
Der mit dem Gesetz eingeleitete Paradigmenwechsel von der bisher geltenden Opt-In-Lösung, nach der die Krankenkassen den Versicherten erst nach ausdrücklicher Einwilligung (§ 344 Abs. 1 SGB V alt) eine ePA zur Verfügung stellten, hin zu der Opt-out-Lösung (§ 344 neu) wird vom Marburger Bund ausdrücklich begrüßt. Es ist aus Versorgungssicht unbefriedigend bzw. inakzeptabel, dass die zum 01.01.2021 (im europäischen Vergleich bereits sehr spät) eingeführte ePA bislang praktisch nicht genutzt wird (laut Verbraucherzentrale derzeit von weniger als einem Prozent der Versicherten).
Neben der „Opt-in-Hürde“ hat eine Rolle gespielt, dass die von manchen Krankenkassen nach erfolgter Einwilligung aufgebauten hohen praktischen Hürden bei der Einrichtung bzw. Authentifizierung der ePA ein zusätzliches Hemmnis darstellen.
Wichtig für die Akzeptanz dieses Paradigmenwechsels dürfte auch sein, dass ePA eine freiwillige Anwendung bleibt, deren Nutzung jede und jeder Versicherte widersprechen oder sie einschränken kann, obwohl dies aus ärztlicher Sicht in bestimmten Fällen für die Behandlung suboptimal sein könnte. Die Übertragung der Behandlungsdaten in die elektronische Patientenakte durch die vertragsärztlichen Leistungserbringer bzw. die zugelassenen Krankenhäuser (§§ 347 und 348) sowie die weiteren Zugriffsberechtigten und Krankenkassen (§§ 349 und 350) wird mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein. Der Erfüllungsaufwand für die Leistungserbringer wird im Gesetzentwurf mit 887 Mio. EUR jährlich beziffert. Dieser muss finanziell kompensiert werden und kann nicht von den Niedergelassenen und Krankenhäusern selbst getragen werden!
Die „Erstbefüllung“ der ePA ist eine wichtige Voraussetzung für deren künftigen Einsatz und wird einen wesentlich höheren zeitlichen Aufwand verursachen als die o.g. „Folgebefüllung“. Die „Erstbefüllung“ wird nach den derzeit gültigen Regelungen des § 346 Absatz 5 und 6 SGB V mit 10 EUR einmalig je Versicherter bzw. Versichertem den „befüllenden“ Leistungserbringern sowie den Krankenhäusern vergütet. Diese Summe scheint angesichts des zu vermutenden zeitlichen Aufwands zu gering zu sein. Die „Erstbefüllung“ sowie die weitere regelmäßige Übertragung der Behandlungsdaten wird insbesondere bei den Vertragsärztinnen und Vertragsärzten, aber auch bei den Krankenhausärztinnen und -ärzten mit einem hohen zusätzlichen zeitlichen Aufwand verbunden sein, der durch das vorhandene Personal nicht erledigt werden kann. Wir befürchten, dass gerade in den Krankenhäusern kein zusätzliches Personal für den mit der Befüllung einhergehenden bürokratischen Aufwand eingestellt werden wird und die vorhandenen ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bereits mit einer erheblichen Überbürokratie belastet sind, diese Aufgabe zusätzlich übernehmen müssen. Dies würde zu einer weiteren Demotivation des Personals führen und muss bedacht werden. Zudem ist die „Erstbefüllung“ der ePA derzeit an keinerlei weitergehende Qualitätskriterien geknüpft. Hier wären qualitative Mindestanforderungen aus medizinischer Sicht sinnvoll, die zusammen mit Vertretern der Ärzteschaft erarbeitet und in diesem Gesetz beschrieben werden sollten.
Die „Erstbefüllung“ wird im vorliegenden Gesetzentwurf nur bezüglich des Anspruchs der Versicherten gegenüber den Krankenkassen auf Digitalisierung von in Papierform vorliegenden Informationen (§ 350 a SGB V) erwähnt. Die Befüllung sollte jedoch ausschließlich durch fachlich geeignetes Personal erfolgen. Hierzu bedarf es ergänzender Regelungen in dem Gesetzentwurf.
Die mit dem Gesetz intendierte Verbesserung der Interoperabilität ist fundamentale Voraussetzung für die Verbesserung der Digitalisierungssituation im deutschen Gesundheitswesen. Nur wenn die unterschiedlichen Informationssysteme beispielsweise aus dem ambulanten und stationären Bereich sowie aus der Notfallversorgung Daten austauschen können, werden künftig Redundanzen vermieden werden können.
Bei der Weiterentwicklung des eRezepts muss in erster Linie die Nutzbarkeit (Usability) verbessert werden. Sowohl für die Leistungserbringer als auch die Patientinnen und Patienten muss das eRezept mindestens genauso leicht zu nutzen sein wie das Papierrezept. Jegliche Verkomplizierung wird zur Ablehnung des eRezepts führen und muss vermieden werden.
Die Weiterentwicklung der Videosprechstunden und Telekonsilien begrüßt der Marburger Bund ebenfalls ausdrücklich. Telekonsilien und Videosprechstunden sind heute bereits in der Versorgung angekommen. Die Ziele des Gesetzentwurfs, die Potenziale noch besser zu nutzen und eine strukturierte, leitlinien-basierte und qualitätsorientierte Versorgung zu ermöglichen sowie die Integration von Videosprechstunden und Vorortbehandlung sicherzustellen, teilen wir. Der Ausbau telemedizinischer Netzwerke war bereits ein Förderschwerpunkt im Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) von 2020. Für eine Konkretisierung dieser Zielsetzung könnten die Ergebnisse der Evaluation der entsprechenden Fördermaßnahme aus dem KHZG eine Grundlage sein. Die Aufhebung der mengenmäßigen Begrenzung der Videosprechstunden macht sowohl aus Versorgungssicht als auch aufgrund der sich stets weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten Sinn und wird befürwortet. Allerdings darf dies keine negativen Auswirkungen auf die ärztlichen Kapazitäten für „analoge“ Behandlungen haben bzw. zur Verknappung notwendiger Präsenzbehandlungen führen. Die Auswirkungen der Aufhebung auch auf die ambulante Notfallversorgung müssen insofern regelmäßig evaluiert werden.
Wir begrüßen die ausdrückliche Erwähnung der Cybersicherheit. Auch hierzu hatte das KHZG bereits 2020 eine Festlegung getroffen; 15 Prozent der bewilligten Fördermittel mussten für IT-Sicherheit eingesetzt werden. IT-Sicherheit muss bei der Digitalisierung stets mitgedacht werden. Bei der Betrachtung der Risiken darf es grundsätzlich keine Unterschiede aufgrund der Größe der Einrichtungen geben, beispielsweise zwischen Krankenhäusern der Maximalversorgung und Arztpraxen. Alle Gesundheitseinrichtungen, die elektronische Patientendaten verwalten, müssen als besonders schutzwürdige kritische Infrastruktur (KRITIS) im Gesundheitswesen eingestuft werden.
Quelle: Marburger Bund Bundesverband