Über ein aktuelles Projekt zur Kompetenzerweiterung
Das deutsche Gesundheitswesen steht unter zunehmendem Druck: Fachkräftemangel und die steigende Zahl an Patientinnen und Patienten, insbesondere in der Demenzversorgung, erfordern innovative Lösungen. Eine vielversprechende Möglichkeit ist die Übertragung ärztlicher Aufgaben auf Pflegefachkräfte – eine Entwicklung, die bereits in vielen Ländern Anklang findet. In Deutschland rückt dieser Ansatz nun ebenfalls in den Fokus.
Kompetenzerweiterung im Gesundheitswesen
Traditionell waren und sind die Aufgaben im Gesundheitswesen in Deutschland systematisch zwischen den Berufsgruppen abgegrenzt: Ärztinnen und Ärzte übernehmen Diagnose und Behandlung, während Pflegefachkräfte für die direkte Patientenbetreuung zuständig sind. Mit der Notwendigkeit, den steigenden Versorgungsanforderungen gerecht zu werden, wird der Begriff „Kompetenzerweiterung“ relevant. Aufgaben, wie beispielsweise einige diagnostische Maßnahmen und die Koordination der Versorgung, die ursprünglich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren, könnten an Pflegefachkräfte übertragen werden. Länder wie die USA, Kanada und Großbritannien sind in der Entwicklung erweiterter Pflegerollen schon weiter. In den USA übernehmen „Advanced Practice Nurses“ (APNs) diagnostische und therapeutische Aufgaben, ähnlich wie „Nurse Practitioners“ in Großbritannien. In den letzten Jahrzehnten hat die internationale Forschung gezeigt, dass die Pflege, die von Pflegefachkräften mit erweiterten Pflegerollen geleistet wird, zur Verbesserung der Patientenzufriedenheit beiträgt, Hausärztinnen und -ärzte entlastet und potenziell kostenneutral oder sogar kostensparend ist. Zudem kann durch die Aufgabenteilung die Versorgungseffizienz gesteigert und der Zugang zur Versorgung, vor allem in ländlichen und unterversorgten Gebieten, verbessert werden.
Das InDePendent-Projekt: Erste Schritte in der Demenzversorgung
Obwohl es in Deutschland bereits seit dem Jahr 2008 gesetzlich die Möglichkeit gibt, im Rahmen von Modellprojekten „ärztliche Tätigkeiten“ an Pflegefachkräfte zu übertragen, existierte deutschlandweit bis Dezember 2020 kein einziges Modellvorhaben im Bereich der ambulanten Versorgung. InDePendent ist das erste Projekt dieser Art, welches auf der Grundlage eines gültigen Versorgungsvertrages nach 63 Abs. 3c SGB V Pflegefachkräfte in die Übernahme heilkundlicher Aufgaben einbezieht, um die interprofessionelle Versorgung von Menschen mit Demenz zu optimieren. Umgesetzt wurde das Projekt des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. in Zusammenarbeit mit Ärzte- und Demenznetzwerken aus Hessen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern in diesen Bundesländern im Jahr 2020.
Aufgaben und Kompetenzen erweiterter Pflegerollen
Im Rahmen des InDePendent-Projektes übernahmen Pflegefachkräfte ärztliche Tätigkeiten wie die Erfassung und Analyse von Medikation, Infusions- und Injektionstherapie, die Beratung von Zu- und Angehörigen zur Krankheits- und Situationsbewältigung sowie die Verschreibung von Pflegehilfsmitteln. Dafür durchliefen die Pflegefachkräfte einen intensiven Qualifizierungsprozess. Dieser umfasste eine sechsmonatige Schulung zu sogenannten „Dementia Care Managerinnen und Managern“ (kurz: DCM) mit insgesamt 710 sowohl theoretischen als auch praktischen Unterrichtseinheiten, die mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen wurde.
Erste Ergebnisse des InDePendent-Projektes
Im September 2023 endete die Erhebung der Primärdaten für das InDePendent-Projekt. 417 Menschen mit Demenz konnten durch die DCMs innerhalb des Interventionszeitraums in der eigenen Häuslichkeit versorgt werden. Die bisherigen Erkenntnisse des Projektes deuten darauf hin, dass die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegefachkräfte potenziell positive Auswirkungen auf die Versorgung von Menschen mit Demenz haben könnte. Erste vorläufige Ergebnisse zeigen, dass diese Maßnahmen ungedeckte Versorgungsbedarfe (z. B. in Bezug auf die körperliche Mobilität oder soziale Kontakte) signifikant reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern können. Die detaillierten Ergebnisse befinden sich derzeit im Veröffentlichungsprozess.
Herausforderungen der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten innerhalb des Modellprojekts
Allerdings traten durch die rechtlichen Vorgaben des § 63 Abs. 3c während des Projektes erhebliche Herausforderungen auf. Versorgungsverträge dürfen beispielsweise gem. § 63 Abs. 3c nur mit (Gemeinschaften von) Vertragsärztinnen und -ärzten geschlossen werden und somit nicht direkt mit Pflegefachkräften. Daher wurden diese Verträge für das Projekt mit Ärzte- und Demenznetzwerken geschlossen, an denen die Pflegefachkräfte angestellt waren. Weiterhin mussten die Pflegefachkräfte gem. § 63 Abs. 3c wirtschaftlich selbstständig handeln, ohne dabei selbst abrechnen zu dürfen. Demzufolge wurde eine Substitution „light“ durchgeführt, welche in enger Absprache mit der Hausärztin bzw. dem Hausarzt erfolgte.
Zudem musste für das erstellte Curriculum zur Weiterbildung der Pflegefachkräfte eine offizielle Genehmigung sowohl vom Bundesministerium für Gesundheit als auch vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und eine Sondergenehmigung vom Berliner Senat und Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin zur Durchführung einer staatlichen Prüfung eingeholt werden.
Ausblick auf die zukünftige Rolle von Pflegefachkräften
Die Rolle der Pflegefachkräfte könnte sich in Zukunft erheblich erweitern. Neben den bereits im InDePendent-Projekt übernommenen Aufgaben könnten zusätzliche Kompetenzen wie die Durchführung komplexer diagnostischer Tests oder die Koordination interdisziplinärer Behandlungsteams an Bedeutung gewinnen. Insbesondere in Bereichen wie der chronischen Krankheitsbewältigung und der Präventivmedizin, könnten Pflegefachkräfte eine noch zentralere Rolle in der Patientenversorgung mit zunehmender Spezialisierung und Fortbildung einnehmen. Studienergebnisse zeigten zudem auf, dass grundsätzlich eine Akzeptanz und Bereitschaft zur Neuorganisation der Aufgaben zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Pflegfachpersonen besteht. Jedoch fehlt es in Deutschland oft noch an den rechtlichen Befugnissen, damit umfassend qualifizierte Pflegekräfte ihre erweiterten Kompetenzen ausüben können.
Angepasster Artikel aus KU Gesundheitsmanagement Ausgabe 10-2024
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Autoren: Annelie Scharf, Dr. Maresa Buchholz, Dr. Dr. Bernhard Michalowsky, Dr. Anika Rädke, Dr. Fabian Kleinke, Prof. Dr., Neeltje van den Berg und Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann