Compliance-Überforderung
Der Beitrag warnt vor der Überforderung von Compliance anhand eines in der Praxis relevanten Kodex. Der Autor zeigt auf, dass Überregulierung im Bereich von Compliance, das Gegenteil des Gewünschten befördern kann. Am Ende schadet die Überregulierung der Akzeptanz von Compliance. Viel hilft eben nicht immer viel.
Dass Compliance völlig überflüssig ist, glaubt heute zum Glück wohl niemand mehr. Über den erforderlichen Umfang von Compliance kann man jedoch streiten; und darüber wird auch gestritten. Ich persönlich finde es bedauerlich, dass Compliance als solches in Deutschland noch immer nicht gesetzlich umschrieben ist. Nicht dass ich mir mehr Compliance wünsche, sondern einfach mehr Klarheit. Man sagt den Deutschen nach, dass sie durchaus zur Regelungswut neigen. Das zeigt sich leider auch bei Compliance. Compliance zieht seine rechtlichen Grundlagen zunächst aus (der entsprechenden Anwendung von) allgemeinen Regelungen zu korrektem Verhalten im Geschäftsleben (vgl. §§ 43 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 2 AktG) und natürlich aus auch Rechtsprechung.
In der sicher wohlmeinenden Absicht, Unsicherheiten bei Umfang und Tiefe erforderlicher Compliance zu vermeiden, entstanden aber auch Regelungen, die man hinterfragen kann. Ein Beispiel hierfür liefert meines Erachtens eine ergänzende Leitlinie zum Kodex des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e. V.“. Schon der Kodex ist über 30 DIN A4-Seiten lang. Da aber auch ein ausführlicher Kodex naturgemäß Interpretationsspielräume belässt, enthält er eine Öffnungsklausel, die es ermöglicht, ergänzende Leitlinien zur Auslegung des Kodex zu erlassen. Und davon wurde reichlich Gebrauch gemacht. Die ergänzende Leitlinie hat einen Umfang von weiteren fast 17 DIN A4-Seiten. Dort erfährt der Leser zum Beispiel, dass einem Pharmaunternehmen für die Bewirtung an Kongressständen externer Fortbildungsveranstaltungen durchaus die Hände gebunden sind. Demnach sind „Kleingebäck, Süßwaren, kleine Muffins, Mini-Blechkuchen, Handobst oder einfache belegte Brote/Brötchenhälften“ angemessen. Aber Vorsicht: „Warme Speisen wie Waffeln, Flammkuchen, Frühlingsrollen, Blätterteighäppchen, Popcorn, Würstchen, Schnitzelchen, oder Süßspeisen (…) überschreiten diesen Rahmen.“ (vgl. Ziffer 11.4.2 der Leitlinie). Pharmaunternehmen, die einen Schoko-Muffin mit flüssigem Kern anbieten wollen, werden ratlos zurückgelassen. Ist das eher wie „Kleingebäck“ oder schon wie „warme Speisen wie Waffeln“ anzusehen?
Regelungswut täuscht Eindeutigkeit vor, die in Wahrheit nicht existiert
Derartige Ausführlichkeit von Regelungen ist m. E. keine Bereicherung, sondern eher eine Entmündigung der betroffenen Unternehmen. Der Versuch, angemessene Compliance vollumfänglich im Regelwerk abbilden zu wollen, muss scheitern. Bei aller Ausführlichkeit bleiben immer Zweifelsfälle zurück. Anstatt pragmatische Regelungen zu entwerfen, die dazu anhalten, Interpretationsspielräume korrekt zu nutzen, täuscht solche Regelungswut eine Eindeutigkeit vor, die in Wahrheit nicht existiert. Wer solche Regelwerke schafft und durchsetzt, läuft Gefahr, diejenigen zu verlieren, die sich redlich um Compliance bemühen, aber nicht gängeln lassen wollen. Dass ein belegtes Brötchen zulässig sein soll, ein Würstchen aber nicht, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar. Sachliche Kriterien lassen sich bei derartigen Auflistungen nicht erkennen. Am Preis kann es nicht liegen. Dass der Blechkuchen in der Herstellung immer billiger ist als die einfache Waffel, glaube ich nämlich auch nicht.
Statt Überforderung und Gängelung durch Compliance zu befördern, sollten Kodizes darauf hinwirken, Akzeptanz für Compliance zu fördern. Daher sollten sie klar und in der gebotenen Kürze formuliert sein. Notwendig vorhandene Interpretationsspielräume sollten durch vorangestellte allgemeine Grundsätze die nötigen Flanken erhalten. Im Übrigen rate ich, auf Geberund auf Nehmerseite darauf zu vertrauen, dass eröffnete Spielräume nicht systematisch überdehnt oder missbraucht werden. Ergänzend kann man darüber nachdenken, ob die Etablierung einer Ombuds- oder Schiedsstelle helfen kann, etwaige Ausreißer im Nachhinein zu bewerten.
Autor: Rechtsanwalt Volker Ettwig, Tsambikakis & Partner Rechtsanwälte mbB
Erschienen in KU 7/2025
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